Meine zwei Veranstaltungs-Highlights im Vorjahr waren eindeutig die Mix in Las Vegas und das Almcamp 2009. Unterschiedlicher geht’s kaum: einmal mitten im größten Erwachsenen-Themepark der Welt, einmal mitten in den Kärntner Bergen auf über 1.600 Metern Seehöhe: mögen andere visualisieren, auf hohe Berge zu steigen oder zu tiefsten Riffen abzutauchen, ich bevorzuge eindeutig Event-Extreme.
Einziges Problem im Vorfeld des Almcamps 2010: dank der unglaublich gut gelungenen Premiere im Vorjahr stand das Erwartungshaltungs-Thermometer auf Höchsttemperatur. Glücklicherweise allerdings völlig zu Recht, wie die zwei Tage auf der Leonhard-Hütte im Maltatal eindeutig bewiesen. Einziger Unterschied zur Erstauflage: das WLAN war wesentlich stabiler, die Sessions für mich persönlich noch um einiges spannender und der Kater… musste zuhause bleiben. Ich hab mir nämlich erlaubt, die Almcamper zu einer kleinen Rumverkostung einzuladen, und mit Hilfe der kubanischen Systema Solera Destillate durchaus erfolgreich, wie ich meine, das eine oder andere Vorurteil über Zuckerrohr-Erzeugnisse ausgeräumt.
Ausgesprochen entgegen kommend von Mark Zuckerberg fanden wir, dass mit dem Release der neuen Gruppen bis knapp vor dem Almcamp–Wochenende wartete, denn die boten Stoff für ausgiebige Diskussionen über mögliche Einsatzszenarien. Mit den zusätzlichen Kollabo-Features will Facebook offenbar eine Lücke schließen und rüstet Möglichkeiten für Online-Zusammenarbeit nach, die einigen Konkurrenten noch heftige Kopfschmerzen bereiten dürften.
Spannend fand ich Achims Ausführungen zur HDR-Photographie inklusive der live vor Ort angefertigten Praxisbeispiele — datenschmutz-Leserinnen und Lesern dürfte in der Vergangenheit nicht entgangen sein, dass ich genau wie Achim diese Erweiterung der kreativen Möglichkeiten sehr spannend finde. Wer High Dynamic Range Bilder gar nicht mag, dem sei verraten: Paracelsus’ alter Spruch gilt auch hier: Die Dosis macht das Gift. Ganz nach meinem Geschmack war natürlich auch die Cheating-Session: auf grandios unterhaltsame und ausgesprochen informative Art und Weise führten Judith Denkmayr und Gerald Bäck die Teilnehmer in die hohe Kunst des Geocheating ein. Erzählen Sie’s nicht weiter, aber die virtuelle Besteigung des K2 war erst der Anfang… In der anschließenden Diskussion waren wir sich dann zumindest die passionierten (Ex-) Gamer schnell einig: Cheats gehören nun mal zu Computerspielen wie Rucola auf die Rindscarapaccio-Pizza. Muss man auch probieren, um mitreden zu können. Aber dass manche Leute mehr Spaß dran haben, sich und andere möglichst penibelst recht arbiträren Regelwerken zu unterwerfen, statt Systemgrenzen auszuloten und das Spiel auch mal im erweiterten Kontext zu spielen, werd ich trotzdem nie verstehen.
Bedenkenswerte Anstöße zu einem in der Online-Welt viel zu wenig diskutierten Thema gab Max Rossberg. Er stellte das Konzept der Cultural Dimensions von Professor Geert Hofstede vor. Dessen Analyse der unterschiedlichen kulturellen Werte und Normen liefert einen brauchbaren Erklärungsansatz für die sehr unterschiedliche Wahrnehmung und Nutzung von Social Media Services in den USA und in Europa, speziell im Hinblick auf Privacy– und Plattform-Transparenz.
Kurz gesagt: die 48 Stunden waren intensiv, entspannend, lehrreich — und das alles bei großartigem Ausblick und frischer Bergluft. Danke den Organisatoren, den Wirtsleuten der Leonhard-Hütte und den Almcampern für ein fantastisches Wochenende! Ich freue mich (und bin ein wenig stolz), dass ich Teilnehmer und Sponsor dieser außergewöhnlichen Netzkonferenz sein durfte.
Quo vadis, Barcamp?
Für mich hat das Almcamp 2010 einmal mehr bestätigt, dass das Barcamp-Konzept in einer kleinen Gruppe wesentlich besser funktioniert. Bei den “großen” Barcamps in Wien orte ich zwei Probleme: einerseits ist von den Grundideen “You do talk about barcamp” und Co. nicht wahnsinnig viel übrig geblieben, andererseits lässt sich bei 200 Besuchern die Idee der Aufhebung der Grenzen zwischen Referenten und Publikum kaum mehr realisieren.
Aber das alles wäre halb so schlimm, hätte nicht so ziemlich jede Werbe und PR-Agentur mittlerweile mitbekommen, dass man auf solchen “Unkonferenzen” eine Menge über diese komische Online-Welt lernen kann, die so wenig mit Old-Media-Konzepten gemeinsam hat. Nun sind Barcamps aber keine Gratis-Nachhilfekurse in Social Media Literacy, sondern ein Austausch von Internet-Praktikern, –theoretikern, –techniker und –philosophen. Mit wachsender Größe wird die “Finanzierung” immer komplizierter, das Catering immer aufwendiger, aber der Dialog immer weniger — kein Wunder, denn ganz ehrlich gesagt habe ich selbst auch überhaupt keine Lust, so richtig aus dem Nähkästchen zu plaudern, wenn ein immer größerer Anteil der Besucher bloß die Ohren spitzt, aber den Mund konsequent geschlossen hält. Und ich weiß aus zahlreichen Gesprächen, dass ich mit meiner Meinung keineswegs allein darstehe. Wie sehen diese vielzitierten Barcamp-Regeln eigentlich aus? Ganz einfach:
- 1st Rule: You do talk about BarCamp.
- 2nd Rule: You do blog about BarCamp.
- 3rd Rule: If you want to present, you must write your topic and name in a presentation slot.
- 4th Rule: Only three word intros.
- 5th Rule: As many presentations at a time as facilities allow for.
- 6th Rule: No pre-scheduled presentations, no tourists.
- 7th Rule: Presentations will go on as long as they have to or until they run into another presentation slot.
- 8th Rule: If this is your first time at BarCamp, you HAVE to present. (Ok, you don’t really HAVE to, but try to find someone to present with, or at least ask questions and be an interactive participant.)
Size matters, und ich bin mir sicher, dass auch in Zukunft spannende, inspirierende und inspirierte Barcamps stattfinden werden — aber vermutlich in kleiner Runde, themenspezifisch und/oder nicht mehr ganz so offen zugänglich wie bisher. Denn “No tourists” gilt mittlerweile nicht mehr, und ein Barcamp lebt nun mal von aktiven Besucherinnen und Besuchern. Social Media genießt inzwischen eine enorme kommerzielle Aufmerksamkeit, die diesem offenen Format nicht unbedingt gut tut. Und genau deshalb macht’s so viel Spaß, mal wieder auf die Alm zu “flüchten” und mit Geek–Kollegen ganz offen und ohne “Sauger-Bedenken” zu diskutieren — quasi wie in “alten Zeiten”, als wir einfach nur deshalb dauernd ins Netz wollten, weil’s so irre spannend und so irre und so spannend war. Und ist. Und nicht weil der Chef letzte Woche beim Jour Fix meinte, dass die Firma jetzt endlich mal “auch was mit diesem Social Media Zeugs machen muss.”
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